Q1-Geschichte auf Exkursion
„Geschichte unter der Oberfläche“ - eine Stadtführung durch die Göttinger Unterwelten
Der eA-Kurs Geschichte (Q1) unter der Leitung von Herrn Haller bearbeitet gerade das Thema „Die Krise des späten Mittelalters“. Auf dieser Grundlage entstand die Idee, am 22. September die Göttinger Innenstadt zu erkunden und dabei das Stadtleben im Mittelalter aus einer anderen Perspektive kennenzulernen. Dazu wurde der Kurs unter Begleitung von Herrn Haller und Herrn Benito in zwei Gruppen eingeteilt und von zwei fachkundigen Stadtführerinnen in einem 90-minütigen Rundgang geführt. Es wurden vier Orte besichtigt, die unabhängig voneinander gelegen waren, so dass die beiden Gruppen an unterschiedlichen Punkten starten konnten.
Die erste Station war die „Mikwe“ unter dem Restaurant Löwenstein in der Roten Straße. Die Familie Löwenstein war eine alteingesessene jüdische Familie in Göttingen. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden die Eltern im Rahmen der Judenverfolgung ermordet, während die Kinder sich retten konnten und flohen. Das Restaurant, welches 2014 nach dieser Familie „Löwenstein“ benannt wurde, ist heute das einzige koschere Restaurant in der Region. Im Keller dieses Gebäudes konnten wir erste Einblicke in den Aufbau eines jüdischen Ritualbades – der Mikwe – gewinnen. Während der NS-Zeit wurde diese nicht zerstört, weil sie im Keller eines Privathauses stand und nirgendwo verzeichnet war. Für das orthodoxe sowie für das konservative Judentum ist der Besuch der Mikwe vorgeschrieben und hat daher eine große Bedeutung.
Die zweite Station befand sich ebenfalls in der Roten Straße. Unterhalb der Alten Mensa fand man bei Renovierungsarbeiten Überreste eines ehemaligen Barfüßer-Klosters. Heute stehen dort Häuser von der Roten Straße bis zum Wilhelmsplatz. Wir besichtigten einen aus dem 13. Jahrhundert stammenden Gewölbekeller, der sich in neun Meter Tiefe befand und von aufwendig gemauerten Rundbögen umsäumt war. Aufgrund mehrerer Öffnungen im Deckengewölbe und des strukturellen Aufbaus des Raumes erkannten die Schülerinnen und Schüler recht schnell, dass es sich um eine Sickergrube und damit um die Mönchstoilette handelte. Glücklicherweise waren in dieser Hinsicht keine Überreste oder Gerüche wahrnehmbar. Oberhalb dieses Raumes saßen damals die Mönche in der „Schwatzkammer“, unterhielten sich und verrichteten gleichzeitig ihr Geschäft. Durch die neun Meter Tiefe entstand eine große Distanz zu den Fäkalien, was für die damalige Zeit fortschrittlich und auch hygienisch war. Aufgrund der Größe des Raumes musste dieser nur etwa alle 15 Jahre von einem Anbieter unreiner Dienste (z.B. Totengräber) kostspielig geleert werden. Dieser verdiente sich nach vollendeter Arbeit noch etwas mehr dazu, indem er die Exkremente den Bauern der benachbarten Dörfer als „Superdünger“ verkaufte. Es ist beeindruckend, dass der Bau seit über 800 Jahren immer noch hält. Das bietet Archäologen und Historikern bemerkenswerte Einblicke in das Alltagsleben der Mönche.
Den nächsten Halt machten wir im Lichtenberg-Haus in der Gotmarstraße / Ecke Prinzenstraße. Hierbei handelte es sich um das frühere Wohnhaus des Mathematikers und Physikers Georg Christoph Lichtenberg, der auch Namensgeber einer Göttinger Gesamtschule ist. Zunächst erfuhren wir von unserer Führung ein wenig über seinen Lebenslauf. Trotz ärmlicher Herkunft und seiner körperlichen Gebrechen war er einer der führenden Köpfe des späten 18. Jahrhunderts. Er führte Experimente in den Uni-Vorlesungen durch, in die er absichtlich Fehler einbaute, um seine Studenten dazu zu begeistern, sich stärker mit der Materie auseinanderzusetzen. Bis dahin waren es tatsächlich Vorlesungen gewesen. Zudem entwickelte er den Blitzableiter Benjamin Franklins etwa 40 Jahre nach der Aufstellung dessen Theorie weiter. In seinem Kellergewölbe, welchen wir erkundeten, führte Lichtenberg weitere Versuche durch und empfing dort Gäste wie z.B. den Physiker Antonio Volta oder Johann Wolfgang von Goethe. Lichtenberg und Goethe gerieten bei einem dort stattfindenden Treffen jedoch so stark verbal aneinander, dass sie den Kontakt zueinander abbrachen.
Die letzte Station führte uns zum „Heizungsraum“ des alten Rathauses. Das alte Rathaus besaß bereits im Mittelalter eine eigene Fußbodenheizung. Dazu wurden unter dem Gebäude mit einem Feuer spezielle Steine erhitzt, die die Wärme besonders gut speichern konnten. Die Wärme stieg dann durch Lüftungsschlitze nach oben bis zum Fußboden des Ratssaals auf. Dieses System hatte jedoch zwei Nachteile: zum einen entstand auf diese Weise zu Beginn eine extreme Hitze, die im Laufe des Tages immer weiter abnahm, da nicht kontinuierlich geheizt werden konnte und zum anderen reichte die hohe Temperatur nicht aus, um den gesamten Raum zu erwärmen. Daher saßen die Ratsmitglieder über den Lüftungsschlitzen auf einem Schemel in ihrem Bekleidungsrock, damit die Wärme direkt ihren Körper und nicht den ganzen Raum erwärmte. Das Heizungssystem wurde später durch einen verbesserten Ofen im Ratssaal ersetzt, wodurch der Heizungskeller umfunktioniert werden konnte. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die Räumlichkeiten als Gefängnis für die Göttinger Bürger, die z.B. ihre Steuern nicht gezahlt hatten, genutzt. Aus dieser Zeit sind auch noch zahlreiche „Graffiti“ (eingeritzte Namen und Daten) zu sehen.
Der Rundgang war für die beiden Gruppen kurzweilig und durch den mehrfachen Ortswechsel abwechslungsreich. Insgesamt war es eine lehrreiche und interessante Stadtführung, durch die man Göttingen auf eine ganz neue Art und Weise kennengelernt hat.
Text: Herr Benito
Fotos: Jannis Greinert und Herr Haller